Wir trauern um Ruth Baumer
In Memoriam
Imagination und Projektion
Die im projizierten Bild geschaffene Welt ist keine Welt mehr durch das innere Auge, wie es die Vision war, sondern sie ist eine Welt für das äußere Auge, eine Welt des Scheins, der optischen Täuschung. Mussten die Augen des Leibes geschlossen werden, bevor das Auge der Seele etwas zu sehen bekam, wird sich ab jetzt das innere Auge mehr und mehr schließen und das äußere Auge an Bedeutung gewinnen. R. B
Als Ruth Baumer sich der Kunstgeschichte zuwandte, steckte sie bereits mitten in einem reichen und vielseitigen Berufsleben. Sie war als Sozialarbeiterin tätig gewesen, hatte sich dann immer stärker der Theaterarbeit nach Grotowski zugewendet und schließlich gemeinsam mit ihrem Mann Günther Holzhey das Museum „augenblick“ in Nördlingen aufgebaut. Über viele Jahre hinweg hatten die beiden liebevoll und kenntnisreich eine qualitätvolle Sammlung optischer und akustischer Medien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Laterna magica, Camera obscura, Grammophon, Drehorgel etc. – aus verschiedenen europäischen Ländern zusammengetragen. Absolutes Schmuckstück dieser Sammlung ist eine große dreistrahlige Laterna magica, mit der Günther Holzhey und Ruth Baumer in ganz Europa faszinierende Darbietungen gaben, die das Wirkungspotenzial und die enorme Spannbreite reizvoller Effekte dieses historischen Projektionsmediums erfahrbar werden ließen. Das war nur möglich, weil sie nicht nur die Laterna magica besaßen, sondern auch eine umfangreiche Sammlung historischer magic lantern slides zusammengetragen hatten – Glasdiapositive mit fotografischen und/oder handgemalten Bildern, die, in Serien zusammengestellt, abendfüllende Programme zur Unterhaltung, Belehrung und religiösen Erbauung bieten. Weit mehr als nur eine „Vorstufe des Films“, ist die Laterna magica ein Medium eigener Qualität, das visuelle und akustische Dimension, Sprache und Musik/Geräusch, Schauspielerei und technisch-visuelle Effekte vereint.
Neben dem künstlerisch-performativen und dem kennerschaftlich-sammelnden wurde der wissenschaftliche Umgang mit der Laterna magica zu Ruth Baumers drittem Standbein. Sie studierte Kunstgeschichte und Germanistk an der Universität Stuttgart, wo u. a. Beat Wyss und Hans-Jürgen Scheuer für sie wichtige und inspirierende Lehrer waren. Auch meine Lehrveranstaltungen besuchte sie häufig und fiel mir auf durch selbstbewusstes, sprühendes Engagement, leidenschaftliche Begeisterung an der Sache und das Einnehmen dezidierter Positionen. Sie hatte einen sehr eigenen Blick auf die Dinge, der oft nicht mit dem meinen identisch war – aber das machte überhaupt nichts. Sie hatte es absolut nicht nötig, sich anzubiedern oder falsche Rücksichten zu nehmen, stand einfach mit fundierten Argumenten für ihre Auffassungen ein und war damit immer eine spannende Gesprächspartnerin und ein Riesengewinn für jedes Seminar. Deshalb wurde sie binnen kürzestem zu einer „Lieblingsstudentin“ und zunehmend auch zu einer Freundin.
Als es an die Magisterarbeit ging, wollte Ruth Baumer das ihr eigentlich naturwüchsig zufallende Thema „Laterna magica“, bedingt durch eine gewisse Ambivalenz und Unsicherheit, lieber beiseitelassen und entschied sich zunächst für ein anderes, viel uninteressanteres Thema. Ausgelöst durch eine lebensgeschichtlich bedingte Krise wandte sie sich dann glücklicherweise in letzter Sekunde doch der Laterna magica zu. Es entstand eine fulminante Arbeit, die über die üblichen Anforderungen an eine Magisterarbeit hinausgehend eine selbstständige Forschungsleistung darstellt. Ihr Anspruch war auch nicht eben bescheiden, ging es ihr doch um nicht weniger als um eine „historisch-kritische Neubewertung der Laterna magica“ (73). Hierfür verknüpfte sie ihre fundierten Kenntnisse über kunst-, bild- und ideengeschichtliche Zusammenhänge der Mediävistik und Renaissanceforschung souverän mit neuesten bildwissenschaftlichen und medientheoretischen Fragestellungen. Im Zentrum ihres Interesses stand dabei, angeregt durch Hans-Jürgen Scheuer, die mittelalterliche Mnemonik und Imaginationstheorie sowie die Imaginationssteuerung mittels Bildern.
Ruth Baumers zentrale These lautet, dass innerhalb des historischen Prozesses der Ablösung der Imagination durch die Projektion die Laterna magica eine „Schlüsselrolle“ (12) einnimmt. Der Grund dafür liege in ihrer Zwischenstellung zwischen den Polen einer Erzeugung „innerer“ Bilder zur Weckung der Imaginationskraft und dem virtuosen Einsatz illusionistischer Mittel zur Erzeugung wirkungsvoller „äußerer“ Bilder. Diese Zwischenstellung der Laterna magica habe eine „Übertragung“ von Mitteln der inneren Bildmeditation zu einer äußeren Projektion ermöglicht. Argumentativ entfaltet wird diese These anhand des berühmten Stichs mit der Darstellung einer Laterna magica in Athanasius Kirchers „Ars Magna Lucis et Umbrae“, dessen Darstellung des Apparats technisch fehlerhafte Details enthält, die im Gegensatz zum Text stehen. Ruth Baumers origineller, gleichwohl historisch gestützter methodischer Zugang zu diesem vielberätselten Stich besteht darin, ihn nach dem Verfahren des vierfachen Schriftsinns zu interpretieren. So kommt sie zu dem Ergebnis, dass der Stich weit mehr als nur den litteralen Sinn einer Textillustration enthalte, vielmehr auf allegorischer Ebene die Bildprojektion in den Kontext frühneuzeitlicher Konzepte des Gedächtnis- und Erinnerungstheaters stelle, auf tropologischer Ebene den Wahrnehmungsapparat des Gläubigen thematisiere und auf anagogischer Ebene die Göttlichkeit des Lichts evoziere. Ihr Fazit lautet, dass der Stich keineswegs nur der Darstellung der technischen Funktionsweise der Laterna magica diene, sondern weit darüber hinaus ein „Mittel zur Bedeutungsaktivierung“ (58) sei, bei dem die Apparatur mit dem menschlichen Wahrnehmungs- und Gedächtnisapparat gleichgesetzt werde und schließlich vollständig in einem metaphysischen Modell aufgehe. In dieser Sicht bilde die Laterna magica einen entscheidenden Zwischenschritt zwischen der mittelalterlichen Imagination und der modernen Illusion. Dabei eigne ihr ein Doppelcharakter: einerseits beschleunige sie die Entwicklung hin zur Veräußerlichung des Bildes, gleichzeitig bewahre sie etwas von der „meditativen, memorativen Kraft“ (65) des inneren Bildes.
In dieser vielschichtigen These – sie wird in Kürze publiziert in einem von Hans-Jürgen Scheuer herausgegebenen Band – liegt das Potenzial für weitere Forschung, denn gerade das Interesse an der imaginativen Potenz des Bildes ist ja ein wesentlicher Motor für das Erstarken der Bildwissenschaft. Ruth Baumer plante deshalb, sie im Rahmen einer Dissertation weiter auszuarbeiten. Parallel dazu begann sie sich intensiv mit Dürers Meisterstich „Melencolia I“ zu beschäftigen. Sie war auf den für Kunsthistoriker an entlegener Stelle publizierten Aufsatz „‘Unser Chamäleon‘. Die Weltchiffre des Menschen bei Pico della Mirandola und Albrecht Dürer“ des Würzburger Philosophen Leonhard Richter gestoßen, der eine komplizierte zahlenmystische Entschlüsselung des Dürerstichs vorschlägt, die in dessen Deutung als Bild des selbstbestimmten Menschen – anstatt der Melancholie – mündet. Ruth Baumer, die mit dem kosmologischen Gedankengut des Renaissancehumanismus gut vertraut war, stürzte sich mit Begeisterung auf diese Interpretation und wollte sie nicht nur für die Kunstgeschichte fruchtbar machen, sondern hatte auch bereits eigene Ideen zu deren Weiterentwicklung.
Zuvor war jedoch ein großer Auftritt in Wien geplant: Günther Holzhey und Ruth Baumer waren von mir eingeladen worden, an der Universität für angewandte Kunst Wien eine Veranstaltung zur Laterna magica durchzuführen, die sowohl eine Präsentation des Mediums und seiner faszinierenden Möglichkeiten als auch einen wissenschaftlichen Vortrag von Ruth Baumer umfassen sollte. Ihre doppelte Begabung – die künstlerisch-performative und die wissenschaftlich-intellektuelle – sollten hier zum Tragen kommen, und die „Angewandte“ als Kunstuniversität war der perfekte Ort für dieses besondere Veranstaltungsformat. Das Interesse beim Wiener Publikum war groß: Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Liebhaber*innen des Mediums Laterna magica hatten ihr Kommen angekündigt. Es gab bereits Interviewanfragen, Dissertant*innen freuten sich auf ein Gespräch mit der Expertin.
Dazu kam es nicht mehr: Kurz nach ihrer Ankunft in Wien am 22. November 2010 starb Ruth Baumer plötzlich.
Was bleibt, ist die Erinnerung an eine sprühende und leidenschaftliche Denkerin und Akteurin, an eine schöne, kluge, sensible und liebenswerte Frau. In unserer langjährigen Korrespondenz hat sie sich mit diesen beiden Sätzen en passant selbst charakterisiert: „Ich bin eben eine ewige Zweiflerin“ und „Ich bin einfach gerne als ‚Morelli‘ unterwegs“.
Univ.-Prof. Dr. Verena Krieger