Digital realities: political imagery and mediatized nature in times of Covid-19
15. - 17. Dezember 2021
Seit dem Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie hat sich das öffentliche Leben zusehends in die digitale Welt verlagert, finden gemeinsame Ereignisse per Mausklick und geteilten Bildschirmen online statt – mit voneinander isolierten, zu Hause an ihren Rechnern sitzenden Individuen.
So werden mit diesem Primat des Visuellen auch die damit verknüpften digitalen Bilder verstärkt zu Zeitdokumenten, die die Debatten und den Einsatz bildlicher Rhetorik spiegeln. Sie sind als visuelle Zeugnisse genauso ephemer wie vordem Plakate und Banner im Stadtraum, Protestschilder auf Demonstrationen und Alltagsvorschriften für öffentliche Plätze. Jedoch führt die durch den Virus verlangte Plötzlichkeit eines globalen Umschwungs zu neuen Typen von ephemeren Bildern: Karikaturen und Kinderzeichnungen des (unsichtbaren) Virus, Fotografien leerer Städte, vereinsamte Plätze öffentlichen Lebens, online gestellte Protestschilder digitaler Formen des Streiks und politische Selbstportraits aktivistischer Gruppierungen, Verhaltenscodices zu sanitären Maßnahmen, Diagramme zur täglichen Inzidenz- und Impfrate und Solidaritätsbekundungen.
Zwar wird auch hier die Mehrzahl dieser Bilder verschwinden, in Vergessenheit geraten, und nur eine Auswahl im kollektiven Bewusstsein und Interesse bleiben. Und doch sind es gerade diese Bilder, die unsere spezifische Zeit prägen, Debatten lenken und mit sozialgesellschaftlichen, politischen und ökologischen Themen die öffentliche Meinung in entscheidenden Feldern bestimmen. Museen haben nach Ausbruch der Pandemie begonnen, entsprechende Bilddokumente und Objekte zu sammeln. Das finnische Nationalmuseum begann bereits Mitte März 2020 mit Interviews und Fotodokumentationen. Das Londoner Victoria & Albert Museum sammelt als „rapid response collecting” zeitgenössische Objekte der Coronakrise in digitaler Bildform. Auch Künstler*innen haben auf diese Motive und deren Narrative reagiert.
Die aktuellen Formen von Internetbildern sind in ihrer Technik, Vermittlung und Rezeption neu und gleichzeitig Teil einer zunehmenden Entwicklung der Massenbilder seit dem Aufkommen der Moderne im 19. Jahrhundert. Von der Lithographie und dem Holzstich der illustrierten Zeitungen über die Fotografie, den Film und das Fernsehen haben zunehmend ephemere Bilder die visuelle (Alltags-)Kultur bestimmt. Während im 19. Jahrhundert das gedruckte Zeitungsbild zu den maßgeblichen Formen öffentlichkeitswirksamer Ephemera zählte, Aby Warburg etwa 1914–18 internationale Tageszeitungen sammelte und auswertete, werden in Bibliotheken, Archiven und Datenbanken diese Formen temporärer Publikationen, Boulevardblätter und schriftlicher Pressezeugnisse schon lange als historische Dokumente aufbewahrt. Aktuell genießen online zirkulierende Bilder Hochkonjunktur. Sie werden millionenfach auf diversen Social-Media-Plattformen distribuiert, geliked, mit populären Hashtags verbunden und kommentiert, erzielen dadurch eine breite Sichtbarkeit. Häufig werden sie auch schnell wieder gelöscht, gesperrt und übersehen. Bildmotive und visuelle Strategien aus der Vergangenheit werden tradiert, approbiert und weiterentwickelt. Im Workshop sollen daher die Grundlagen der neuen Bildformen und deren Kontextualisierung in den Blick genommen werden.
Angesichts der heute vorherrschenden Digitalität der Bilder stellen sich umso dringlicher Fragen zur adressatenbezogenen Erreichbarkeit, Authentizität, algorithmisch bestimmten Filterung und technologischen Zugänglichkeit sowie nach Optionen, diesem ephemeren Charakter durch Speicherung entgegenzuwirken und deren Historizität zu dokumentieren. In unserer Realität der Algorithmen sind ebensolche Regimes normierter Sichtbarkeit gleichfalls kritisch zu befragen und die Bezüge zur Geschichte herzuleiten.
Folgende Fragen und Aspekte dienen zur Orientierung und stecken das
zu diskutierende Themenfeld ab: Welche (neuen) Kategorien von ephemeren
Bildern und Bildstereotypen gibt es, die eine Reflektion unserer
pandemischen Realität erlauben, diese abbilden, kommentieren oder gar
mitbestimmen? Welche Wirkmacht und zugleich Widerstandspotential ist
ihnen inhärent und welchen Stellenwert nehmen sie in unserer bildaffinen
Kultur ein? Wie ist das Verhältnis von Text und Bild jeweils zu
beschreiben? Wer gehört zu den Produzent*innen dieser Bilder und wie sind
deren distributive Infrastrukturen zu analysieren?
Die globale
Verbreitung verleiht ihnen oftmals Glaubwürdigkeit, ohne dass Strategien
der Verifizierung Anwendung finden bzw. überhaupt vorhanden sind, um
Desinformationen kritisch zu begegnen. Dieses (scheinbare) Versprechen
der Bilder im Anthropozän belegt u.a. die im März 2020 viral gegangene
Fotografie der in Venedigs Kanälen gesichteten Delphine als Zeichen
einer Rückeroberung der durch den Menschen beherrschten Natur durch die
Tierwelt, obwohl es sich hier nicht um Aufnahmen aus der Lagunenstadt
handelte, wie eine Identifikation von Standbildern nachträglich ergab.
Ein Pandemiejahr später und damit ein Jahr später mit deutlich
gesunkenem Tourismus und Verkehrsaufkommen betitelten einige Zeitungen
erneut die Sichtung von Delphinen in Venedig, nun durch mehrere
Aufnahmen verifiziert. „False News“ und „Deep Fake” bestimmen angesichts
weltweit um sich greifender Desinformationen und Verschwörungstheorien
zunehmend unsere Gesellschaft – einem Phänomen, dem sich der Workshop
gleichfalls widmen möchte.
Im Zentrum des Workshops stehen digitale
Ephemera in Zeiten von Covid-19, insbesondere im Kontext aktueller
politischer Krisen wie sozialer Brüche, der Pandemie und dem Klimawandel
und deren Narrative, die von virtuellen Protesten über eine veränderte
Naturwahrnehmung während der Pandemie und ihrer Unterbrechung des
globalen Alltags bis zu Fragen der Desinformation reichen. Diskutiert
werden soll die Entstehung einer zeitspezifischen politisch-ökologischen
Ikonographie und welchen Einfluss diese auf die ubiquitäre Generierung
und Distribution digitaler (Bewegt-)Bilder als Abbild und Stellvertreter
der pandemischen Realität besitzt.
KONZEPTION: Steffen Haug
(Bilderfahrzeuge, Warburg Institute London) und Ursula Ströbele
(Studienzentrum zur Kunst der Moderne und Gegenwart, ZI München).
PROGRAMM
Mittwoch, 15. Dezember 2021
15:00–15:30 Uhr // Begrüßung und Einführung
15:30–16:00 Uhr
Burcu Dogramaci, München // Pandemische Kamera: Gefahr und Schutz im fotografischen Bild
16:00–16:30 Uhr
Karen Fromm, Hannover // Leeres Zentrum – periphere Bilder. Die visuelle Berichterstattung zur Coronapandemie
- Pause -
17:00–17:30 Uhr
David Kerr, Riga // Picturing the present: Immortal finitudes of the real and virtual
17:30–18:00 Uhr
Arianna Sforzini, Fribourg // Inoculation, Propagation, Contamination. Aesthetics of Contagion
- Pause -
18:30 Uhr
Artist Talk // Alfredo Jaar (New York): „Between the Heavens and Me“. Artistic Practice in Times of Covid-19
A conversation with the artist by Ursula Ströbele and Steffen Haug
Donnerstag, 16. Dezember 2021
15:00–15:30 Uhr
Heather Shirey, St. Paul, MN // Political Graffiti and Street Art in the Context of Covid-19
15:30–16:00 Uhr
Brendan Cormier, London // Pandemic Objects
- Pause -
16:30–17:00 Uhr
Charlotte Reuß, Wien // 1/10 Slides: Information Sharing auf Instagram während Covid-19
17:00–17:30 Uhr
Jeffrey Lin, London // War of truth and accountability: the political propaganda on CCP virus from/in Hong Kong
17:30-18:00 Uhr // Final Discussion